Mit dem Fahrrad Richtung Süden

Bist du schon mal so lange mit dem Fahrrad gefahren bis Landschaft, Klima und Menschen plötzlich anders aussahen? Hast du schon mal eine Strecke zurückgelegt, die man auch aus dem Weltall sehen könnte?

Eine gute Vorbereitung ist die halbe Miete

Eine Fahrradtour muss gut geplant sein. Es muss irgendwann Ende Mai sein als mir das erste mal in den Sinn kommt, eine Fahrradtour zu machen. Und als ich spätabends über die Bonner Straße schlenderte, blieb mein Blick an einem beleuchteten Schaufenster hängen: Ein grünes Fahrrad präsentierte sich dort im Scheinwerferlicht. Das TX-Randonneur von der VSF Fahrradmanufaktur in der Farbe British Racing Green. Der Porsche unter den Gravelbikes. Ein Preisschild fehlte. Die Zielgruppe spricht nicht über Geld. Ich überlegte, wie es wohl wäre mit diesem Fahrrad auf eine Abenteuerreise zu gehen. Ein Anruf, eine Probefahrt und ein Kassensturz später stand es schon in meinem Flur. Ich bestellte außerdem eine Handyhalterung, Rahmentaschen, Elektrolytepulver, Flickzeug, 35 Müsliriegel, Radlerhose, Fahrradhandschuhe, Schweißbänder, Trikot, Stirnlampe, einen neuen Fahrradhelm und anderen Kram, der mir nötig und nützlich erschien. Kurz darauf erreichte die Amazon Aktie ein neues Allzeithoch. Zufall? Ich glaube nicht.

TX Randonneur der VSF Fahrradmanufaktur

Warum man für nichts trainiert haben muss

Man sollte meinen, eine solche Reise erfordert ein gewisses Maß an Training und Vorbereitung. Eine gute Vorbereitung kann eine Menge Frustration verhindern, sie kann dir deine offenen Fragen zu Ausrüstung oder Routenführung beantworten und sie kann dir einen körperlichen Vorsprung verschaffen. Natürlich kann sie dir auch ein gutes Gefühl vermitteln, denn danach bist du schließlich vorbereitet. Was sie dir aber nicht vermitteln kann ist Disziplin, Leidensfähigkeit und Siegeswille. Drei der wohl wichtigsten Eigenschaften. Was dir fehlende Vorbereitung außerdem liefert ist stets eine gute Entschuldigung, ein perfektes Mittel zum Selbstbetrug („Ich trainiere erstmal ein bisschen und dann…“) und das trügerische Gefühl, die vermutlich vernünftigere Entscheidung getroffen zu haben.

Mutig ist, wer’s trotzdem macht

Meine Vorbereitung bestand in einer Wochenend-Tour von Köln nach Duisburg (2x70km) eine Woche vor dem geplanten Start. Das war ganz schön anstrengend und meine bisher längste Fahrt. Ansonsten durchstöberte ich das Internet nach hilfreichen Tipps. Die mich jedoch unter dem Strich oft ratlos zurückließen. Ich prüfte meine Ausrüstung und bereitete mich ansonsten mental vor.

Funktionstest meiner 200 Lumen starken Stirnlampe

Kurz vor dem Start

Eine Route habe ich nicht, nur eine Richtung: Barcelona. Und dorthin führen bekanntlich auch viele Wege. Die Alpen würde ich mir gerne ersparen, also lieber Richtung Eifel. Um die Pyrenäen komme ich wohl nicht rum. Erstmal den Rhein ein Stück runter. Maßgeblich bestimmt wird die Route davon, dass ich von unterwegs einfach Barcelona als Ziel in mein Navi eingebe: 1.412 Kilometer sagt Google Maps. Neben Google Maps benutze ich Komoot und Strava. Mein Handy habe ich am Lenker befestigt, es wird aus der Rahmentasche mittels einer Powerbank mit Strom während der Fahrt versorgt. Als ich losfuhr wusste ich noch nicht, dass es Radfernwege gibt. Angepeilte Startzeit in Köln ist 12:00 Uhr. Eile ist nicht geboten, in den nächsten 3 Wochen werde ich insgesamt über 110 Stunden (Bewegungszeit) auf dem Rad sitzen. Spontan entschließe ich mich daher auch dazu, lieber nochmal ein Nickerchen zu machen. Tatsächlicher Start war dann um 16:00 Uhr.

Es ist Samstag, 16:00 auf dem Breitengrad 50.8998

Es geht los

Der Helm sitzt, ein letztes Abschiedsfoto ist gemacht und die Räder setzen sich langsam in Bewegung. Ich fahre vorbei am Rheinauhafen Richtung Rodenkirchen. Kurz vor Bonn fällt mir auf, dass mein Handy gar keine Kopfhörerbuchse hat. Kurzerhand folgt also ein erster Stop in der Bonner Innenstadt, um das nötige Adapterkabel zu kaufen. Bei meinem Vorhaben unterstützt mich der Umstand, dass die Bonner Innenstadt mittlerweile hauptsächlich aus Handyläden, Dönerbuden und Shishabars besteht. Ich entscheide mich dieses mal gegen eine Shisha und besorge das Kabel. Wenig später fragt mich ein Radfahrer, ob ich wüsste, wo man hier gut angeln kann. „Ich… bin nur auf der Durchreise“, sage ich und starre auf meinen Tacho, der 36 Kilometer zurückgelegte Strecke anzeigt. „Schon etwas lächerlich“, denke ich mir und fahre weiter.

Burg Drachenfels bei Bonn

Nach 68 Kilometern komme ich erschöpft in einem Ort namens Bad Breisig an und finde das wohl kleinste Hotelzimmer auf meiner ganzen Reise. Zufälligerweise wird dieses Hotel von Chinesen geführt und so gibt es zu später Stunde noch eine ordentliche Portion Asia-Nudeln bevor ich einschlafe wie ein Stein.

In Sinzig ist was los

Der Morgen danach

Am nächsten Morgen frühstücke ich mit einigen Rentnern und überlege mir die Route für den Tag. Burg Eltz liegt nicht weit von meinem Weg entfernt und so entschließe ich mich diesen Zwischenstopp einzuplanen. Der Weg führte mich an Feldern entlang, deren Korn aus purem Gold zu sein schien.

Wieviel Karat hat dieses Korn bitte?

Was ich auf der Karte nicht erkennen konnte: Die Burg liegt mitten in der Eifel, im Tal Eltz, umgeben von Bergen. Erst bei Andernach, als ich den Rhein verlasse, merke ich langsam, was ich mir da vorgenommen habe. In der Nähe der Burg spricht mich ein Mann an. „Wohin geht’s?“ „Barcelona“, antworte ich. Scheinbar beeindruckt schaut er sich mein Fahrrad an. „4 Bremsen, das ist praktisch“, sagt er und erzählt mir, wie er vor einigen Jahrzehnten von Köln nach Jerusalem mit dem Fahrrad fuhr und auf dieser Tour fast sein rechtes Bein verlor. Ich nicke beeindruckt.

Die Burg Eltz

Das Sitzen auf dem Sattel schmerzt. Bergab fahre ich im Stehen. Es ist 32 Grad und vor der Burg wartet eine Menschenmenge geduldig auf den Einlass. Ich fülle meine Flaschen auf und fahre nach einer kurzen Pause weiter. Bis hierhin fuhr ich meistens auf asphaltierten Strecken, auf einmal habe ich nur noch Schotter- und Waldwege vor mir. Ich bin im Wald. Jetzt geht es bergauf. Das Rad rutscht im Schotter immer wieder weg. Ich schalte in den 1. Gang. Der Gang ist tückisch, weil ich so langsam werde, dass ich einen Teil meiner Energie darauf verschwenden muss, nicht umzukippen. Die 22 kg Gepäck fühlen sich ein bisschen so an, als würde ich noch jemanden auf Wasserski den Berg hochziehen. Ein Blick nach oben, mir wird schlecht. Pause. 100 Meter fahren. Wieder pause. Ich werde von Wanderern überholt, die irgendwann am Horizont verschwinden. Und dann habe ich’s geschafft. Ich bin oben und fahre auf einer Allee zwischen Feldern. Und fühle mich dabei als wäre ich in einer anderen Welt. Das war ganz schön anstrengend, denke ich mir. Was, wenn jeder Tag so wird? Wie lange kann ich das aushalten?

Cochem

Erstmal wurde es schlimmer

Um die Taktzahl zu erhöhen und dem angedachten Ziel von 100 km/Tag näher zukommen, fange ich an mir höhere Ziele zu setzen. Am Dritten Tag soll es nach Trier gehen. Und es bleibt bergig. Entlang der Mosel treffe ich auf Gegenverkehr. Immer wieder werde ich überholt. Ein kurzer Blick auf das Unterrohr des Fahrrads, um zu prüfen, ob dort ein Elektromotor hängt, hilft bei der Entscheidung wieviel Anerkennung ich für den Überholenden übrig habe. Zu meiner Verwunderung ist der Großteil der Fahrradfahrer mit einem E-Bike unterwegs. Bereits nach 10 Minuten Fahrt schmerzt der Sattel. Ich werde heute viele Pausen machen. Nach jeder Pause wird es schlimmer. Ich verlagere mein gesamtes Gewicht auf die Arme und stütze mich mit aller Kraft auf dem Lenker ab, sodass ich beinahe über dem Sattel schwebe. So dauert es auch nicht lange bis auch die Handgelenke schmerzen. Zwischendurch fahre ich auch weiterhin immer wieder im Stehen. Nach einem steilen Bergsprint kommen mir zwei Wanderer entgegen. „Respekt“, ruft der ältere Herr mir zu. Das geht runter wie Butter.

Bergauf durch den Wald

Zwischen Weinreben kann ich nun das Moseltal sehen. Ich erinnere mich nicht, jemals zuvor so viel grün gesehen zu haben. Das hier scheint eine dieser Stellen zu sein, an denen die Natur mit ihrer Perfektion regelrecht rumprollt.

Das Moseltal

Ein kurzer Zwischenstopp im Aldi irgendeines Kaffs: Mitagessen gibt es heute auf dem Parkplatz. Ich beobachte, wie eine Frau mit 2 kleinen Kleinkindern den Laden verlässt und sich vor der Tür eine Zigarette ansteckt, während ich mir den Salat reinschaufel. „Mama hat gesagt, dass Rauchen ungesund ist und man davon sterben kann“, höre ich eins der Kinder sagen. „Ach was, das stimmt gar nicht“, antwortet die Frau, „warte nur ab, in ein paar Jahren wirst du auch rauchen“. Ich beschließe, dass das der richtige Zeitpunkt ist wieder in die Pedale zu treten.

Erschöpft komme ich in Trier an. Ich habe schon wieder Hunger. Ob ich mir die Porta Nigra anschauen soll? Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen und die Hüften schmerzen. Den Schmerz nehme ich persönlich. Nach 86 Kilometern zurückgelegter Strecke will ich’s dann nochmal wissen. Ich buche das Hotel 15 Kilometer hinter der nächsten Bergauffahrt und steige wieder auf. Mein Magen grummelt dem Sonnenuntergang entgegen. Mir tropft Schweiß von der Stirn. Der einzige Weg zum Hotel ist eine Schnellstraße. Der Fahrtwind, dicht an mir vorbeifahrender Autos, sorgt gleichermaßen für ein Unwohlsein und ein bisschen Erfrischung. Mein Wasser neigt sich dem Ende. Um meinen Kopf tanzt ein Ganzes Volk von Fliegen, die mich scheinbar provozieren wollen. Mit meiner letzten Kraft schlage ich um mich und habe 3 Sekunden Ruhe. Dann sind sie wieder da. Mein Handy zeigt einen niedrigen Akkustand. Ich stecke es an die Powerbank, die aber ebenfalls leer ist. Ich fahre in eine Nothaltebucht, hänge über der Leitplanke, während ich versuche mir die Adresse vom Hotel einzuprägen. Manchmal komme ich an Warnschildern vorbei „Vorsicht! Eichenprozessionsspinner“. Bäume sind mit Absperrband beklebt, manche Wege sind komplett gesperrt. Ich habe das Wort noch nie gehört. Vielleicht eine giftige Pflanze denke ich mir und fahre weiter. Mein Handy schaltet sich aus und ich fahre den Weg, den ich mir halbwegs eingeprägt habe. Das Ortsschild verrät mir, dass ich richtig gefahren bin. Ich finde das Gasthaus und wundere mich über die komplett verrammelten Fenster. Die Tür ist verschlossen und auf mein Klingeln öffnet Niemand. Ich sinke auf die Treppe und lehne den Kopf in den Nacken. Plötzlich höre ich Geräusche aus dem Innenhof. Ich schleiche mich um das Haus und sehe Licht aus einem Fenster. „Hallo?“ rufe ich. „Hallo?“ eine Frau steckt fragend Ihren Kopf aus dem Fenster. „Ich habe ein Zimmer bei Ihnen reserviert“. „Ach wirklich?“ Die Rolladen gehen hoch und ich stehe in einer etwas in die Jahre gekommenen Kneipe. „Ich muss das Zimmer erst putzen“ sagt die Frau und einen Moment überlege ich ihr zu sagen, dass es mir egal ist, ob das Zimmer sauber ist. Mein Handy zeigt eine zurückgelegte Strecke von 101 Kilometer. Das erste Mal dreistellig. Darauf erstmal ein Bier.

Warum auch nicht?

In dieser Nacht bin ich der einzige Gast im Hotel. Ich halte es für möglich, dass ich auch seit längerer Zeit der einzige Gast gewesen bin. Am nächsten morgen erwartet mich in der Kneipe ein hervorragendes Frühstücke. Der Fernseher läuft und im Frühstücksfernsehen sagen sie, dass jährlich 20.000 Deutsche einen Herzinfarkt beim Sport bekommen. Meine heutige Route soll über gleich zwei Landesgrenzen führen.

Meine Tagesetappen

TagStartZielKilometerHöhenmeter
20.06.20KölnBad Breisig67,8 km256 m
21.06.20Bad BreisigEllenz-Poltersdorf80,2 km667 m
22.06.20Ellenz-PoltersdorfOberemmel100,5 km904 m
23.06.20OberemmelMetz92,4 km557 m
24.06.20MetzCrévéchamps95,7 km333 m
25.06.20CrévéchampsDompaire69,8 km267 m
28.06.20VittelRay-sur-Saône88,7 km1.100 m
29.06.20Ray-sur-SaôneFrasne-les-Meulières71,7 km489 m
30.06.20Frasne-les-MeulièresChalon-sur-Saône109,3 km406 m
01.07.20Chalon-sur-SaôneMâcon78,6 km389 m
02.07.20MâconGivors97,5 km328 m
03.07.20GivorsCharmes-sur-Rhône124,0 km174 m
04.07.20Charmes-sur-RhôneOrange113,2 km230 m
05.07.20OrangeMontpellier117,6 km 727 m
06.07.20MontpellierAgde65,6 km164 m
07.07.20AgdePeyriac-de-Mer79,6 km291 m
08.07.20Peyriac-de-MerPerpignan66,7 km367 m
09.07.20PerpignanBàscara86,2 km714 m
10.07.20BàscaraBarcelona132,8 km1.010 m

Die erste Grenzüberfahrt

Nach dem Frühstück komme ich nur schwer in Gang. Als ich schließlich los rolle, habe ich das erste Mal das Gefühl, die Schmerzen werden weniger. Für die erste halbe Stunde ist das Sitzen auf dem Sattel sogar recht bequem. Bis zur luxemburgischen Grenze ist wenig Verkehr auf den Radwegen. Nun, es ist auch mittags an einem Wochentag. Kurz vor der Grenze bekomme ich Hunger. Ich halte an der einzigen Raststätte weit und breit. Ein Kellner wartet vor der Tür. „Aufgrund Corona dauert die Zubereitung von Speisen ca. 1 Stunde“ sagt er. „Gilt das auch für Pommes?“ frage ich ihn. „Pommes geht schneller. Also einmal Pommes?“. „Zweimal“, antworte ich. „Sie sind zu zweit?“ „Nein“ Etwas beschämt senkt der Kellner seinen Blick auf den Boden und 5 Minuten später bekomme ich zwei Teller Pommes serviert.

Ich halte nur für Tiere

Die Durchfahrt durch Luxemburg dauert keine Viertelstunde. Das schöne an Schengen ist vor allem, dass es dafür zu sorgen scheint, dass es keine Grenzkontrollen mehr gibt. Ansonsten gibt es hier nicht viel zu sehen und so bin ich wenig später auch schon in Frankreich.

Direkt fällt der perfekte Straßenbelag auf. Oft genug werde ich auf meiner Reise eine falsche Ausfahrt nehmen oder die Radwege nicht finden. Wenn man dann irgendwann den richtigen Weg wieder gefunden hat, sind die Straßenbedingungen meistens ein Traum. Zu meinen ersten Begegnungen zählt ein Rentnerpärchen, das mich auf einem Rennrad-Tandem überholt. Kurz darauf kommt mir eine Gruppe Rennradfahrer entgegen. Mir wird bewusst, dass ich in der Radfahrernation Frankreich angekommen bin und das hier ist meine Tour de France. Woran man übrigens auch merkt, dass man nicht mehr in Deutschland ist: Es gibt keine Funklöcher mehr.

Place De La Carrière (Nancy)

Eine eher unschöne Begegnung

Nach einer Übernachtung in einem Fernfahrerhotel vor Metz, geht es weiter Richtung Südwest. Es muss Nachmittags gewesen sein als ich plötzlich vor einem abgesperrten Fahrradweg stehe. Die einzige Umleitung führt 6 Kilometer zurück. 6 KILOMETER!! Das kommt natürlich nicht in Frage. Während ich überlege was ich tun soll, beobachte ich einen anderen Fahrradfahrer dabei, wie er bestimmt und frei von allen Zweifeln die Absperrungen zur Seite räumt, sein Fahrrad zwischen den Zäunen durchschiebt und weiterfährt. Als braver Deutscher wäre mir das natürlich nie eingefallen und so bin ich ganz froh über die sich nun neu ergebenden Möglichkeiten.

Die Freude hält nicht lange. Nach wenigen Kilometern fahre ich auf zugewachsenen Schotterwegen entlang eines Kanals. Nach einer guten halben Stunde über Stock und Stein sorgt jede weitere Erschütterung für Kopfschmerzen. Ich konzentriere mich darauf, über keinen spitzen Stein zu fahren, denn platte Reifen würden mein Problem bestimmt nicht lösen. Am Abend komme ich in einem Chambres D’Hote an. Meine Beine und Arme jucken und es zeichnen sich Rötungen ab, die auch am nächsten Morgen nicht verschwunden sind.

Komische Pünktchen auf der Haut

Schon nach kurzer Zeit merke ich, dass etwas nicht stimmt. Ich komme nicht in den Tritt und bin schon nach 40 Kilometern am Ende meiner Kräfte. Das Jucken wird in der Hitze schlimmer. In der Pampa finde ich schließlich eine Bushaltestelle, die mir Schatten bietet. Ich versuche einen klaren Gedanken zu fassen. Der Bus fährt hier Zweimal am Tag.

Noch mehr komische Pünktchen
Das soll weg gehen

Die Rötungen sehen nun wie Stiche aus. Ich überlege, was das sein könnte aber mir fällt keine Antwort ein. Also beschließe ich zum nächsten Hotel zu fahren, das in 2 Stunden Entfernung liegt. Zum Zeitpunkt meiner Ankunft ist das Hotel verschlossen. Covid soll der Grund sein warum ich erst um 17:30 einchecken kann. Das Restaurant und die Apotheke haben ebenfalls zu. Ich setze mich auf die Treppe einer Kirche und werde hier nun 2 Stunden warten. Ein kleiner Peugeot flitzt über den Kirchplatz und steuert auf die Apotheke zu. Wenig später geht dort das Licht an. Ich schleppe mich dorthin und zeige auf meine mittlerweile roten Arme. Die Apothekerin schlägt die Hände über dem Kopf zusammen: „Mon Dieu“, sagt sie und aus irgendeinem Grund kann ich verstehen als sie mir erklärt, dass ich Kontakt mit dem Eichenprozessionsspinner hatte. Routiniert greift Sie hinter sich nach einem Antihistaminikum und einer Cortisonsalbe. Ich gehe zurück zum Kirchplatz und nehme die Medikamente. Als das Hotel am Abend öffnet, falle ich direkt ins Bett. Es ist der Juckreiz, der verhindert, dass ich ein Auge schließen kann. Ich nehme ein Bad und spüle die Hautareale abwechselnd mit brühend heißem und eiskaltem Wasser ab. Sobald ich anfange zu kratzen, nimmt der Juckreiz weiter zu. Es ist nach Mitternacht als ich einschlafe.

Der Eichenprozessionsspinner

Am nächsten Morgen muss ich das Hotel verlassen. An Weiterfahren ist allerdings auch nicht zu denken. Das nächste Hotel ist im 35 Kilometer entfernten Vittel. Mit ausreichend Pausen komme ich gegen Mittag dort an. Das Hotel ist ziemlich leer. Vittel ist trotz seines weltbekannten Namens nur ein kleines Dorf. Ich bin auch am nächsten Tag nicht fahrbereit und verbringe den ganzen Tag im Bett. Es ist warm und unangenehm. Mit einem nassen Handtuch schlage ich auf die roten Hautareale. Der Schmerz vertreibt den Juckreiz. Lidocain sorgt dafür, dass ich meine Beine nicht mehr spüren kann.

Bahnhof von Vittel

Als ich nach 2 Tagen Vittel verlasse, beschließe ich in ein Krankenhaus zu fahren. Was ich brauche ist Ranitidin und Prednisolon in höchster Dosis. Ich fahre durch einen Wald und traue meinen Augen kaum. Habe ich das grade richtig gesehen? Ich drehe um und fahre ein Stück zurück. Eine haarige Raupe läuft nur einen Meter vor mir über die Straße. Da ist der Erzfeind: Der Eichenprozessionsspinner. „Heiliges Kanonenrohr“, denke ich mir. Es ist Zeit, Buße zu tun. „Das Vieh muss sterben“. Ich suche nach einer geeigneten Waffe. Ich darf auf keinen Fall mit den komischen Haaren in Berührung kommen. Während ich also nach einem möglichst großen Stein suche, kommen mir erste Zweifel. „Was mache ich hier?“ Ich war eigentlich auf dem Weg nach Barcelona, jetzt bin in irgendeinem Wald in Frankreich und kämpfe mit einer kleinen Raupe? Das muss eine Falle sein. Ich lasse das Vieh am leben und fahre weiter. Irgendwann komme ich im Krankenhaus an. Es wird 2 Stunden dauern und mir die letzten Nerven kosten, bis ich einsehe, dass es einfach nichts bringt. Den Rest des Tages fahre ich im Regen. Der Ausschlag wird mich noch eine Woche begleiten, es wird jedoch täglich besser.

Taize

Einige Tage später komme ich an Taizé vorbei. Ich beschließe eine Pause zu machen gehe in ein nahegelegenes Café. Anscheinend bin ich der einzige Gast hier. Es ist ein ziemlich schräges Haus. Ein wilder Vorgarten mit einigen Plastikstühlen, im Inneren des Hauses stehen in meterlangen Regalen tausende unterschiedliche Bierflaschen. Spinnweben hängen von der Decke und auf allem liegt eine tiefe Staubschicht. „Bonjour“ sagt eine Stimme und ein Mann, der optisch große Ähnlichkeit mit Dumbledore hat, steht plötzlich neben mir. Er redet auf mich ein und es dauert einen Moment bis er merkt, dass ich überhaupt nichts von dem verstehe, was er mir sagen möchte. „Anglais? Allemand?“ fragt er. „Allemand“, antworte ich. „Möchten Sie ein Bier?“ Ich schaue ratlos in die schier unfassbare Menge an Flaschen. „Ich empfehle Ihnen ein Kräuterradler“ sagt er und greift in eins der Regale, nimmt eine Flasche heraus und pustet den Staub weg, „Ich kaufe es immer in Nürnberg und finde, Sie sollten es mal probiert haben“. Es sollte besser schmecken als jedes Radler, das ich je getrunken habe.

Kurz überlege ich, ob ich im Kloster von Taizé nach einer Übernachtung fragen soll. Eigentlich weiß ich nicht so richtig, was das eigentlich ist. „Ich lese mich da lieber erst nochmal ein, bevor ich da reingehe“, denke ich und fahre noch ein paar Orte weiter.

Der pinke Rennradfahrer

Ich bin kurz vor Mâcon, links neben mir ist ein Deich, der Windschatten spendet. Die Fahrbahn wurde wohl frisch asphaltiert. Die Sonne knallt auf meine mittlerweile braunen Unterarme. Ich fahre im höchsten Gang und die Räder rollen nahezu geräuschelos. Ohne große Mühe spule ich Kilometer für Kilometer runter. Der Tacho zeigt solide 37 km/h. Hinter dem Deich liegt ein Stausee. Es ist nicht viel los hier, irgendwann sehe ich einen Fahrradfahrer am Horizont. Ich schließe langsam auf. Er trägt ein pinkes Radtrikot. Braun gebrannte kräftige Waden verraten, dass dies nicht seine erste Tour in diesem Jahr ist. Irgendwas stimmt hier nicht, denke ich und komme näher. Warum ist er so langsam?

Ich setze zur Überholung an und ziehe vorbei. Als ich schon so weit weg bin, dass ich es eigentlich gar nicht mehr hören kann, höre ich das krachen einer Gangschaltung. Mir wird sofort klar: Das hier wird eine weitere Nebenquest auf dem Weg nach Barcelona. Ich spüre, wie mein Gegner aufschließt und trete in die Pedale, dabei lege ich mich auf den Lenker um den Luftwiderstand zu verringern. Für einige Kilometer bleibe ich so in Führung. Mein Kontrahent hat sich in meinen Windschatten eingenistet, das hörbar schwere Atmen verrät aber, dass auch er an seinem Limit zu sein scheint. Plötzlich macht der Weg eine scharfe kurve. Der Bodenbelag verändert sich, Kieselsteine statt Asphalt, vorbei an einigen Häusern. An der nächsten Ecke links. Die Straße ist eng. In meinem Augenwinkel sehe ich, wie sein Vorderrad nur wenige Zentimeter von meinem Hinterrad entfernt ist. Ich halte die Geschwindigkeit, das wird knapp, und lege mich in die Kurve. Die linke Fahrradtasche streift die Fassade des Backsteinhaus. Mein Kontrahent wird langsamer. Auf den Kieselsteinen kann ich nicht bremsen und ich merke wie ich die Ideallinie verlasse und nichts dagegen tun kann. Meine Lage bekomme ich erst wieder stabilisiert als ich längst auf dem Ausläufer einer Wiese bin. Puh, immerhin blieb mir der Abflug erspart. Ein Schlenker zurück auf die Straße, ich bin weiterhin in Führung. Gut so. Das war’s an Kurvenfahrten. Vor mir liegt erneut eine kerzengrade Strecke. Auch die Kieselsteine sind sauberem und tiefschwarzem Asphalt gewichen. Nach etwa zwei Minuten, setzt sich der Mann in meinem Windschatten parallel zu mir, bleibt aber zunächst hinter mir. Seine goldene Sonnenbrille reflektiert das Sonnenlicht so stark, dass man den Blick schnell wieder abwenden muss, wenn man nicht erblinden will. Das leise klicken einer Gangschaltung, das lauter werdende Geräusch, eines fremden Fahrrads. Auf meiner Höhe angekommen, dreht er sich zu mir, ein kurzes Nicken und er zieht an mir vorbei. Mein kläglicher Versuch nun in seinem Windschatten zu fahren, ist aussichtslos. Bereits nach einer Minute verschwindet der Mann mit dem pinken Rennradtrikot hinter dem Horizont.

Atomkraftwerk von Cruas

Höchstgeschwindigkeit

Eine Fernreise ist vermutlich nicht der richtige Ort, um neue Geschwindigkeitsrekorde zu brechen. Und trotzdem gab es einen Moment, an dem ich wusste, dass es Zeit ist meinen persönlichen Rekord aufzustellen. Mir war klar, dass es bessere Bedingungen nie wieder geben wird. Vielleicht wird das schon mein letzter richtiger Sprint sein. Ich war kurz vor Montpellier. Es war am frühen Abend und die Sonne hing goldgelb über der Straße. Bereit dazu, jeden Moment unterzugehen. Ich fuhr auf einer Schnellstraße und gewöhnte mir an, auf dem weißen Begrenzungsstreifen zu fahren. Auch wenn man die Lufttemperatur als angenehm mild beschreiben konnte, das Flimmern über dem noch aufgeheizten Asphalt verriet, es war nicht lange her als hier noch über 30 Grad herrschen. Immer wieder wurde ich von Autos überholt. Ich hatte grade die letzte Bergauffahrt hinter mir und sah im Höhenprofil meines Navigationssystems, dass es ab jetzt nur noch talwärts ging. Ich genoss den Fahrtwind und das scheinbar mühelos Bergabfahren für einen Moment. Der Tacho zeigte 62 km/h an. „Ob ich die 70 schaffe“ fragte ich mich. Das war natürlich nur eine rhetorische Frage. 63 km/h, 63,8 km/h, 64,3 km/h. Die Hände umklammerten den Lenker und ich baute die maximale Körperspannung auf. 65 km/h, 66,2 km/h ich strampelte auf dem Fahrrad als wäre die Kette gerissen. „Hängt das Gepäck noch richtig?“ schießt es in meinen Kopf. Ich traue mich nicht nach hinten zu sehen und vertraue darauf, dass alles noch an seinem Platz ist. Mein Blick konzentriert sich auf die Straße 3 Meter vor mir. Jede Unebenheit, die nicht rechtzeitig abgefedert wird, würde für einen Abflug sorgen. Ein Unfall bei solchen Geschwindigkeiten wäre vermutlich tödlich. Die Geschwindigkeit stagniert. Ich denke zu viel nach. Mit diesem Mindset wird das nie was. Also nehme ich erst nochmal die Geschwindigkeit raus, um kurz Kraft zu sammeln für einen neuen Antritt. Wieder trete ich in die Pedale als gäbe es überhaupt keinen Widerstand. Meine Trittfrequenz liegt jetzt über 100 U/min. Der Tacho zeigt 63 km/h… 64km/h… 65 km/h… 66km/h. Ich ziehe von der Begrenzungsspur weiter nach links und lege mein Kinn auf den Lenker. 67 km/h… 68 km/h… 68,4 km/h… 68,6 km/h… 68,8 km/h… 68,5 km/h. Ich fahre im fließenden Verkehr. Überholt werde ich nicht mehr. Nochmal die letzten Kraftreserven aktivieren. Ich lege den Kopf in den Nacken und versuche mich so klein wie möglich zu machen, um den Luftwiderstand weiter zu verringern. Mein Sichtfeld ist auf 2 Meter beschränkt. Ich starre auf den Boden und ziehe in die Mitte der Fahrspur in den fließenden Verkehr 68,7 km/h… 69,1 km/h… 69,4 km/h… 69,7 km/h… 69,8 km/h… 69,7 km/h… 69,8 km/h… 69,7 km/h… 69,6 km/h… 69,9 km/h… 70,3 km/h… 70,7 km/h… 71,4 km/h… 71,9 km/h… 72,5 km/h… 72,8 km/h… 73,3 km/h… 73,6 km/h… 74,1 km/h

Ich werde langsamer und fahre wieder auf die Begrenzungslinie. An der nächsten Kreuzung will ich mir eine Verschnaufpause gönnen. Nun werde ich vom ersten Auto überholt, jemand grölt aus dem Fenster, der Fahrer hupt. Andere tun es ihm nach. Einer ruft „magnifique“. Ich bedanke mich höflich. Ja, Frankreich ist immer noch eine Radfahrernation.

Das erste Mal Meer

Als ich abends in Montpellier ankomme erwartet mich modernste Architektur. Aber nicht etwa Bürogebäude, in erster Linie sind es Wohngebäude, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Formen hervorstechen. Montpellier liegt nur wenige Kilometer vom Meer entfernt. Trotzdem werde ich erst morgen ans Meer fahren.

Montpellier

Am nächsten Morgen sehe ich zum ersten mal das Meer. Es ist ganz schön, aber auch sehr windig. Ich habe die nächsten Tage nahezu ständig Gegenwind. Das praktische am Meer sind die Fressbuden. Snacks oder Getränke sind jederzeit in Reichweite. Weniger angenehm sind die Menschen, die auch schonmal gerne ohne zu gucken vor’s Fahrrad laufen oder denken, ich würde für sie bremsen. Meine Bereitschaft nach 1.100 Kilometern für Menschen zu bremsen, die den halben Tag faul am Strand rumlagen während ich mich durch peitschenden Gegenwind kämpfte, der mir immer wieder den Küstensand in die Augen trieb, war mäßig ausgeprägt.

Sète

Die Pyrenäen kommen näher

Auf der vorletzten Etappe brauche ich kein Navi, die Pyrenäen zeigen den Weg. Da oben muss wohl Andorra sein. Ein merkwürdiges Land, ein sogenannter Zwergstaat, gelegen auf einem 2.600m hohen Berg. Merkwürdig wäre es sicherlich auch mit dem Fahrrad dorthin zu fahren. Ich fahre lieber über Le Perthus, das je nach dem von welcher Seite man kommt auch El Pertus genannt wird. Es ist ein kleiner Ort mit einem großen Parkplatz. Ein Ort, den vor über 2.000 Jahren schon Hannibal mit seinen Elefanten überquert haben soll. Elefanten sind in meinen Augen nur Statussymbole. Braucht man alles nicht.

Die Bergauffahrt ist steil und zieht sich über eine Strecke von 15 Kilometern. Es wird die letzte Bergetappe sein. Und das Ziel meiner Reise war an meine Grenzen zu kommen. Also fahre ich den Berg dieses Mal ohne einen Zwischenstopp hinauf. Schweiß rinnt mir über die Stirn bis zu den Augenbrauen, manchmal kommt was durch und landet in meinen Augen, die sofort anfangen zu brennen. Ich spüre die pulsierende Ader an meiner Schläfe. Obwohl mich das offensichtlich anstrengt, fühlt es sich nicht so an. Ich trinke bei jeder Gelegenheit. Heute werden es insgesamt 12 Liter sein.

Blick auf die Pyrenäen
2 Stunden später
Der Blick dazu

Am Grenzübergang herrscht Stau. Viel zu sehen gibt es hier nicht. Le Perthus ist ein Dorf mit vielleicht 500 Einwohnern und ebenso vielen Geschäften. Ein Straßenverkäufer will mir einen Selfie-Stick andrehen. „Nee du, lass mal“. In den Geschäften werden vordergründig niedrigpreisige Waren mit kurzer Lebensdauer vertrieben. Aber auch Schmuck und Souvenirs werden verkauft.

Durchfahrt durch Le Perthus

Viva Espana

Eine Nacht im Bordell

Die Fahrradwege in Spanien sind kein Vergnügen. Verwöhnt von den Bedingungen in Frankreich, fahre ich nun weite Strecken an Autobahnen und Schnellstraßen entlang. Das macht nicht nur wenig spaß, es kostet auch erheblich mehr Konzentration. Leicht bekleidete Damen stehen am Straßenrand und scheinen auf jemanden zu warten, der sie abholt. Als es zu dämmern beginnt, suche ich nach einer Übernachtungsmöglichkeit. Ich finde ein sehr günstiges Hotel in der Nähe. Das Schild über der Tür hängt schief und war bestimmt früher mal beleuchtet. Vor der Tür sitzen Menschen und trinken Bier. Ich gehe durch die Tür und stehe in einer Bar. Der Glatzkopf hinter der Theke schaut mich ungläubig an. „Do you have a room?“ frage ich. „Sure“, er mustert mich von oben bis unten „how long?“. „Just one night“ antworte ich. „Ahh …ehh ok, no problem, so that would be 27 Euros por favor.“ Er deutet an, dass ich mein Fahrrad hinter die Theke schieben kann, was ich auch mache und drückt mir einen Schlüssel in die Hand. „Sorry, we don’t offer breakfast here. Your room is at the first floor“. „Alright“, ich ziehe mein Gepäck die Treppe hoch und gehe bis ans Ende des dunkeln Gangs. Mein Zimmer ist klein. Ein Bett und ein Stuhl. Die Vorhänge sind zugezogen. Die Möbel sind schäbig und von der Decke bröckelt der Putz. Ansonsten sieht es sauber aus. Ich höre stimmen auf dem Flur, dann fällt eine Tür ins Schloss. Kurz darauf schlafe ich ein. Mitten in der Nacht wache ich auf. Im Flur wird es laut. Es wird gebrochenes Englisch geredet. Ich gehe an die Tür um nach dem rechten zu sehen. Der Flur schimmert im Rotlicht. Schuhe mit hohen Absätzen huschen über den leicht versifften Boden. Das hier ist kein normales Hotel, ich bin im Puff vor Barcelona.

Ich gehe zurück in mein Zimmer und schließe die Tür ab. Eine Mücke kreist über meinem Kopf. „Solange es kein Eichenprozessionsspinner ist“ denke ich mir und schlafe wieder ein.

Nächster Halt: Barcelona

Meine letzte Etappe führt mich über Girona nach Calella, von dessen Hässlichkeit ich überrascht bin, schließlich an der Küste entlang bis nach Barcelona. Von Mataró aus erblicke ich das erste Mal mein Ziel. Es dämmert bereits als ich die funkelnden Hochhäuser aus der Ferne sehen kann. Eine letzte Mahlzeit auf dem Lidl-Parkplatz und schon ist es dunkel. Es wird Zeit das Licht einzuschalten. Meine 200 Lumen starke Stirnlampe werde ich wohl auch heute nicht benötigen. Noch 28 Kilometer. Was an jedem anderen Tag einer Hiobsbotschaft gleichkäm, ließ heute keinen Zweifel mehr daran, dass ich mein Ziel erreichen würde. 19 Tage sitze ich nun auf dem Sattel. 19 Tage von denen nicht ein einziger mich nicht an meine körperlichen Grenzen gebracht hat. 19 Mal Radklamotten abends im Waschbecken waschen und 19 mal nasse Radklamotten am nächsten Morgen anziehen. Ich denke an die Momente, die ich in den letzten 3 Wochen erlebt habe, an den netten Franzosen vor Valence, der sich mit mir nach einer kurzen Wegbeschreibung noch über Gott und die Welt unterhielt und nicht merkte, dass ich kein einziges Wort verstand, von dem was er sagte; an den Moment als Cornelia, die von Bern nach Paris fuhr, und ich uns einen Teil der Strecke teilten; ich denke an die mit Abstand schlechteste Pizza meines Lebens vor Nancy; an Laurent, den netten Hotelier; als ich nach einer Pause im Café wieder auf’s Rad steigen wollte, meine Beine aber keine kreisenden Bewegungen mehr machen konnten und sich mechanisch wie die einer Marionette bewegten; an den Abend an dem ich keine Unterkunft fand und im dunkeln alle Google Einträge abtelefonierte; oder die Nacht, in der ich mit einem platten Reifen kilometerlang auf dem Seitenstreifen lief, weil man mir sagte, dass das Hotel gleich um die Ecke sei. Und ich denke an den Moment, an dem ich ankommen und meine Reise beenden werde. Ausgerechnet jetzt muss mir eine Fliege ins Auge fliegen. Nur noch 22 Kilometer. Die Hochhäuser kommen näher. Die haben ernsthaft ein Kraftwerk ans Meer gebaut? Ich vergesse die Zeit. Es wird kälter. Mitternacht ist längst vorbei. Auf’s Handy gucke ich nicht mehr. Der Weg ist offensichtlich. Die nächste Zeit erlebe ich nicht mehr bewusst. Als ich mich auf einer Mittelstraße voller Bäume befinde, bleibe ich stehen. Ein Gelb-Schwarzes Taxi rast über den Platz. Bin ich in Barcelona? Ein Blick auf das Handy verrät: Ich bin mittendrin. Das Ortsschild habe ich wohl verpasst. Es ist halb 2 und diese Stadt scheint tief zu schlafen. Ich sollte das besser auch, denke ich. In der Nähe mache ich ein Hostel ausfindig. Kurz danach schlafe auch ich.

Eine Kirche

Am nächsten Tag suche ich einen Fahrradladen und lasse mein Fahrrad in einen Karton einpacken, der deutlich größer ist als ich. Auf die Schnarchnase im Hostel habe ich keine Lust mehr, deshalb buche ich für meine letzte Nacht nochmal ein Hotel. Das Paket ziehe ich hinter mir her bis an den Empfang des 4-Sterne Hotels, den Teppich aus dem Foyer nehme ich dabei auch gleich mit. Mein Paket ist zu groß für den Aufzug. Deshalb bekomme ich ein Zimmer im Erdgeschoss. Am nächsten Morgen hält ein Großraumtaxi vor dem Hotel, das mich zum Flughafen bringt. Flug EW9445 hebt pünktlich um 9:40 ab und nimmt Kurs auf Düsseldorf. Das Flugzeug ist voll mit deutschen Urlaubern, die teilweise braun und teilweise rot sind. „War das alles nur ein Traum?“ frage ich mich, während ich aus dem Fenster die Ausläufer der Pyrennäen sehen kann. Eine blechernde Borddurchsage versucht zu erklären, dass Covid-19 der Grund sei, wieso man heute keine Sandwiches im Smart-Tarif bekommt, man aber selbstverständlich gegen Entgelt welche käuflich erwerben kann. Meine Oberarme sind so braun wie lange nicht mehr, nur meine Handgelenke sind immer noch kreidebleich. Ich habe die ganze Zeit über Fahrradhandschuhe getragen. Offensichtlich war das kein Traum.

Bewertung: 5 von 5.

6 Kommentare zu „Mit dem Fahrrad Richtung Süden

  1. Mensch Moritz, coole Tour und sehr mutig mit den haarigen Krabbeltieren Freundschaft schließen zu wollen. Bloß gut, dass ich zu alt bin, Dir nachzueifern. Chapeau und liebe Grüße, Hans

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  2. Eine tolle Reise mit interessanten Erlebnissen. Danke für den kurzweiligen Bericht. Hat Spaß gemacht, ihn zu lesen. Ist auf jeden Fall eine schöne Anregung für eine eigene Radtour.

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  3. Sicher eine unvergessliche Reise aber ich denke es hat sich auf jeden Fall gelohnt, den Blog zu schreiben: So können wir deine Reise ein wenig mit erleben und deine Erinnerungen bleiben länger lebhaft!
    Ich finde es nach wir vor der Hammer,
    dass du es durchgezogen hast – trotz aller Widrigkeiten! Was für eine Zielstrebigkeit und ein Durchhaltevermögen: CHAPEAU! 🙂
    Bin auf deine weiteren Abenteuer und „Verrücktheiten“ gespannt!

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